Die p&e entwickelt eine Leistungselektronikplattform für Batteriespeichersysteme, beispielsweise für Krankenhäuser, die auch bei einem flächendeckenden Stromausfall jederzeit mit elektrischer Energie zu versorgen sind. Derzeit kommen dort vor allem Dieselgeneratoren zum Einsatz – aus klima- und energiepolitischer Sicht höchstens zweite Wahl. Das Problem bei herkömmlichen Batterien: Ihre einzelnen Zellen sind fest in Reihe geschaltet. Zeigt eine Zelle eine Minderleistung, kann das ganze System betroffen sein. Gerold Schulzes Ansatz: Die einzelne Zelle kann überbrückt werden, und das System läuft unterbrechungsfrei weiter, selbst wenn manche nicht mehr leistungsfähig sind. Das kann die Lebensdauer um bis zu 50 Prozent verlängern. Vor diesem Hintergrund engagiert er sich auch in der Batterienormung. Gerold Schulze stellt fest: „Hätte ich gewusst, wie klein die Fortschritte sind, hätte ich es nicht begonnen.“
Wer mitredet, gestaltet die Zukunft: Wann sich Normungsarbeit auch für kleinere Unternehmen lohnt
Eine Abwägung zwischen Aufwand und Mitsprache: Startups in der Normung
Für kleinere Unternehmen ist Engagement in der Normung tatsächlich eine besondere Herausforderung. Während manche Konzerne ganze Abteilungen mit Mitarbeitenden für die Arbeit bereitstellen können, bleibt es bei Startups oft Chefsache. Gerold Schulze weiß das aus eigener Erfahrung. „Wenn ich als Geschäftsführer einen halben Tag in einer Gremiensitzung sitze, fehlt mir diese Zeit im Betrieb.“
Dennoch sieht er auch Vorteile. „Man bekommt einen tiefen Einblick in die Branche und tauscht sich mit Expertinnen und Experten aus. Das bereichert schon. Zudem können wir unsere Perspektive einbringen und versuchen, dass diese berücksichtigt wird.“ Ob sich das auszahlt, ist offen. Auch, weil aus seiner Sicht manche Unternehmen mitunter den Ton angeben möchten, was nicht zwingend auf die technisch beste Lösung einzahlt. „Aber wir bringen unsere Expertise ein und versuchen, nachhaltige Lösungen voranzutreiben. Dafür ist es notwendig, über bestehende Lösungsansätze hinaus zu denken.“
Normung ist kein Sprint, sondern ein Marathon
Jemand, der weiß, dass Normung einen langen Atem braucht, ist Dirk Boguhn von der INGUN Prüfmittelbau. Das Konstanzer Unternehmen entwickelt Prüfadapter und Kontaktstifte, mit denen elektronische Bauteile in der Produktion getestet werden, um ihre Qualität zu sichern. Mit seinen rund 450 Mitarbeitenden zählt der Mittelständler zu den Weltmarkführern. Seit mehr als zwei Jahrzehnten engagiert sich Dirk Boguhn in der Normungsarbeit. Anfangs sei er skeptisch gewesen, sagt er. „Das klang alles bürokratisch und langwierig.“ Doch mit der Zeit habe er erkannt, dass Normung eine der wichtigsten Stellschrauben für den Marktzugang ist.
Ein Beispiel ist die Einführung digitaler Typenschilder. „Ein Kollege aus meinem Normungsgremium stellte das Konzept vor: Eine App scannt das Typenschild beispielsweise von einer Schaltanlage oder einem Roboter und zeigt alle relevanten Daten digital an – von technischen Daten über Bedienungsanleitungen bis hin zu Wartungshinweisen. Ich dachte sofort: Das könnte auch für unsere Produkte spannend sein. Ich habe an der Norm nicht mitgearbeitet, aber frühzeitig davon erfahren, und wir können als einer der ersten normgerechte Produkte auf den Markt bringen – ein echter Wettbewerbsvorteil.“
Normungsarbeit – ein Plus für den eigenen Lebensweg
Für Dirk Boguhn liegt das größte persönliche Plus der Normungsarbeit aber im Netzwerk. „Man kommt mit Fachleuten aus unterschiedlichsten Unternehmen in Kontakt, national und international. Und auch wenn man nicht über interne Projekte spricht, gewinnt man neue Perspektiven. Mitunter entstehen daraus sogar Geschäftsbeziehungen oder echte Freundschaften.“ Den Moment, als er zum ersten Mal eine Norm auf dem Tisch hatte, an der er selbst mitgearbeitet hatte, beschreibt er als Schlüsselerlebnis. „Keine Ahnung, wie viele zig Stunden ich da in Diskussionen und Iterationen reingesteckt habe. Aber dann zu sehen, dass da wirklich was Gutes draus entstanden ist, das macht einen schon stolz.“
Gute Gründe für „langsame“ Prozesse
Was Gerold Schulze von p&e aber besonders nervt: die fehlende Flexibilität des Systems. Für sein junges Unternehmen mit begrenzten Ressourcen ist das eine Herausforderung. „In der Wirtschaft entwickeln wir Produkte flexibel, probieren viel aus und machen dabei Fehler. In der Normung reden wir monatelang darüber, was in einem Dokument stehen soll.“ Normung macht also zunächst Arbeit. Die Prozesse sind vielfach langwierig, mitunter dauert es mehrere Jahre, bis eine Norm wirklich final verabschiedet ist. Das Vorgehen – das auf dem Konsenzverfahren beruht – hat aber gute Gründe: Eine Norm, auf die sich eine große Anzahl von Fachleuten mit vielfältigen Hintergründen, unter Einbezug von interessierten Kreisen wie Verbraucherschutz und der Öffentlichkeit, geeinigt haben, steht für eine hohe Sicherheit und eine hohe Qualität. Sie sind fair und versprechen eine hohe Akzeptanz und Langlebigkeit im Markt. Dazu muss man wissen, dass der wirtschaftliche Faktor durch die Anwendung von Normen tatsächlich immens ist. Dank Effizienzsteigerungen und Kosteneinsparungen liegt der volkswirtschaftliche Nutzen allein für Deutschland bei 17 Milliarden Euro pro Jahr.
Marktmacht weckt Begehrlichkeiten. So hat Ende der 2010er Jahre ein chinesisches Unternehmen einen internationalen Normentwurf für Thermografie-Kameras eingebracht – der auffällig detailliert war, exakt auf deren eigene Produkte gemünzt war und ihnen einen massiven Wettbewerbsvorteil verschafft hätte. Widerstand regte sich, der Entwurf wurde in den internationalen Normungsdiskussionen unter anderem von einer Gruppe deutscher Experten um Dirk Boguhn zurückgewiesen: „Man versucht dann, sich auf Grundanforderungen zu einigen, lässt aber Spielraum für verschiedene Lösungsansätze. Das ermöglicht Innovationen, ohne zu restriktiv zu sein.“ Heute greift für Thermografie-Kameras eine Technische Spezifikation der Internationalen Elektrotechnischen Kommission (IEC), auf deren Inhalt auch Dirk Boguhn mit Einfluss genommen hat.
Vernetzter, smarter, effizienter: Die Zukunft der Normung
Auch die Normungswelt digitalisiert sich, den Normungsprozess und die Normen selbst in rasantem Tempo. Wo es früher ausschließlich persönliche Treffen gab, ziehen hybride Sitzungen und virtuelle Arbeitsgruppen ein. Über digitale Plattformen, Kollaborationstools oder Webkonferenzen können Expertinnen und Experten aus aller Welt in Echtzeit an Normungsdokumenten arbeiten. Das spart nicht nur Reisezeit und Kosten, sondern ermöglicht auch eine effizientere Abstimmung und Arbeitsweise.
Ein weiterer wichtiger Schritt sind Smart Standards: digitale, maschinenlesbare Normen, die direkt in Unternehmensprozesse, Softwarelösungen und Prüfverfahren eingebunden werden können. Statt statischer PDF-Dokumente ermöglichen digitale Normeninhalte eine flexible, modulare und automatisierte Anwendung – beispielsweise für Produktentwicklungen, Qualitätssicherung oder digitale Zwillinge in der Industrie. Mit der zunehmenden Digitalisierung werden die Normungsarbeit und die Normenanwendung nicht nur agiler, sondern auch für Unternehmen einfacher zugänglich.
Normung lebt vom Mitmachen!
Die Möglichkeiten mit Normung die Zukunft zu gestalten sind vielfältig:
- Normen sind im Entwurf? Stellung nehmen und Kommentare einsenden!
- Normen sind lückenhaft oder fehlen? Einen Normenantrag stellen!
- Sie wollen mitentscheiden? Kostenfreie Mitgliedschaft als Expertin oder Experte beantragen!
Wir freuen uns, Sie in den Normungsgremien der DKE begrüßen zu dürfen.
Wann lohnt sich die aktive Beteiligung in der Normung?
Normen bringen nicht nur technische Sicherheit in der Anwendung. Sie sorgen auch dafür, dass die eigenen Produkte mit anderen kompatibel sind und bieten rechtlich Sicherheit, wenn sie korrekt angewendet worden. Durch Sicherheit und Interoperabilität genießen genormte Produkte zudem ein hohes Vertrauen. Gerade bei neuen Produkten, Innovationen oder aufkommenden Technologien helfen Normen dabei, schneller in den Markt zu kommen. Alles gute Gründe dafür, sich zu engagieren.
Sich an der Normung zu beteiligen – die Entscheidung hängt auch von anderen Faktoren ab. Viele stellen sich die Fragen: Wie fruchtbar ist der Austausch mit gleichgesinnten Fachleuten für mich und mein Unternehmen? Und stimmt bei begrenzten Ressourcen – siehe Startups wie p&e – das Kosten-Nutzen-Verhältnis? Gerold Schulze selbst ist sich noch nicht sicher, ob sich die Investition in die Normung für sein Unternehmen lohnt. „Unser Engagement kostet Zeit und Kraft – und durchschlagende Erfolge habe ich noch nicht gesehen. Daher kann ich nicht sagen, ob ich bis zur Verabschiedung des Normenentwurfes dabeibleiben werde.“ Dirk Boguhn hingegen hat seine Antwort gefunden. „Man kann sich ärgern, dass Prozesse dauern. Oder man kann sich einbringen und mitgestalten.“ Der wichtigste Punkt bleibt: Normen entstehen nicht von selbst. Sie werden von denen gemacht, die mitreden.
Redaktioneller Hinweis:
Die Antworten entsprechen den persönlichen Ansichten und Meinungen des Interviewpartners und müssen nicht denen der DKE entsprechen.