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12.06.2025 Kurzinformation

Wer mitredet, gestaltet die Zukunft: Wann sich Normungsarbeit auch für kleinere Unternehmen lohnt

Ein sonniger Vormittag im Kasseler Science Park. Vor einem modernen Bürogebäude steht ein großer, weißer Container mit PV-Modulen. Unauffällig, doch mit Innovationspower im Inneren: ein Batteriespeichersystem mit neuartiger Leistungselektronik, das deutlich langlebiger als bisherige Lösungen und leichter reparierbar sein soll. Das Startup p&e power&energy betritt damit Neuland. Gleichzeitig stößt die EU 2023 mit der neuen Batterieverordnung unter anderem einen Normungsprozess an, der auch auf die Reparierbarkeit von Batterien abzielt. Für Gründer Gerold Schulze – der als Ingenieur Normen aus seiner täglichen Arbeit nur allzu gut kennt – eine reizvolle Konstellation: „In den Normungsprozessen werden wichtige Weichen für die kommenden Jahrzehnte gestellt. Das ist schon ein Anreiz, sich einzubringen.“

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Michael See
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Die p&e entwickelt eine Leistungselektronikplattform für Batteriespeichersysteme, beispielsweise für Krankenhäuser, die auch bei einem flächendeckenden Stromausfall jederzeit mit elektrischer Energie zu versorgen sind. Derzeit kommen dort vor allem Dieselgeneratoren zum Einsatz – aus klima- und energiepolitischer Sicht höchstens zweite Wahl. Das Problem bei herkömmlichen Batterien: Ihre einzelnen Zellen sind fest in Reihe geschaltet. Zeigt eine Zelle eine Minderleistung, kann das ganze System betroffen sein. Gerold Schulzes Ansatz: Die einzelne Zelle kann überbrückt werden, und das System läuft unterbrechungsfrei weiter, selbst wenn manche nicht mehr leistungsfähig sind. Das kann die Lebensdauer um bis zu 50 Prozent verlängern. Vor diesem Hintergrund engagiert er sich auch in der Batterienormung. Gerold Schulze stellt fest: „Hätte ich gewusst, wie klein die Fortschritte sind, hätte ich es nicht begonnen.“

Eine Abwägung zwischen Aufwand und Mitsprache: Startups in der Normung

Für kleinere Unternehmen ist Engagement in der Normung tatsächlich eine besondere Herausforderung. Während manche Konzerne ganze Abteilungen mit Mitarbeitenden für die Arbeit bereitstellen können, bleibt es bei Startups oft Chefsache. Gerold Schulze weiß das aus eigener Erfahrung. „Wenn ich als Geschäftsführer einen halben Tag in einer Gremiensitzung sitze, fehlt mir diese Zeit im Betrieb.“

Dennoch sieht er auch Vorteile. „Man bekommt einen tiefen Einblick in die Branche und tauscht sich mit Expertinnen und Experten aus. Das bereichert schon. Zudem können wir unsere Perspektive einbringen und versuchen, dass diese berücksichtigt wird.“ Ob sich das auszahlt, ist offen. Auch, weil aus seiner Sicht manche Unternehmen mitunter den Ton angeben möchten, was nicht zwingend auf die technisch beste Lösung einzahlt. „Aber wir bringen unsere Expertise ein und versuchen, nachhaltige Lösungen voranzutreiben. Dafür ist es notwendig, über bestehende Lösungsansätze hinaus zu denken.“

Warum gibt es Normen?

Warum beteiligen sich Unternehmen und Fachleute überhaupt am aufwendigen Normungsprozess? Der Grund liegt in der zentralen Bedeutung von Normen. Sie sorgen dafür, dass Produkte und Technologien sicher in der Anwendung und kompatibel mit bestehenden Produkten sind. So beschleunigen sie auch die Markteinführung von Innovationen und schaffen Vertrauen für neue Technologien. Ohne Normen gäbe es keine einheitliche Installation von Steckdosen, keinen globalen Standard für sichere Haushaltsgeräte und keinen weltweit verlässlichen Schutz vor Stromschlägen in Gebäuden. In Deutschland koordiniert die DKE (Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik im DIN und VDE) die Normungsarbeit in der Elektrotechnik. Rund 10.000 Fachleute aus Industrie, Wissenschaft und Forschung sind hier ehrenamtlich engagiert.

Normung ist kein Sprint, sondern ein Marathon

Jemand, der weiß, dass Normung einen langen Atem braucht, ist Dirk Boguhn von der INGUN Prüfmittelbau. Das Konstanzer Unternehmen entwickelt Prüfadapter und Kontaktstifte, mit denen elektronische Bauteile in der Produktion getestet werden, um ihre Qualität zu sichern. Mit seinen rund 450 Mitarbeitenden zählt der Mittelständler zu den Weltmarkführern. Seit mehr als zwei Jahrzehnten engagiert sich Dirk Boguhn in der Normungsarbeit. Anfangs sei er skeptisch gewesen, sagt er. „Das klang alles bürokratisch und langwierig.“ Doch mit der Zeit habe er erkannt, dass Normung eine der wichtigsten Stellschrauben für den Marktzugang ist.

Ein Beispiel ist die Einführung digitaler Typenschilder. „Ein Kollege aus meinem Normungsgremium stellte das Konzept vor: Eine App scannt das Typenschild beispielsweise von einer Schaltanlage oder einem Roboter und zeigt alle relevanten Daten digital an – von technischen Daten über Bedienungsanleitungen bis hin zu Wartungshinweisen. Ich dachte sofort: Das könnte auch für unsere Produkte spannend sein. Ich habe an der Norm nicht mitgearbeitet, aber frühzeitig davon erfahren, und wir können als einer der ersten normgerechte Produkte auf den Markt bringen – ein echter Wettbewerbsvorteil.“ 

Normungsarbeit – ein Plus für den eigenen Lebensweg

Für Dirk Boguhn liegt das größte persönliche Plus der Normungsarbeit aber im Netzwerk. „Man kommt mit Fachleuten aus unterschiedlichsten Unternehmen in Kontakt, national und international. Und auch wenn man nicht über interne Projekte spricht, gewinnt man neue Perspektiven. Mitunter entstehen daraus sogar Geschäftsbeziehungen oder echte Freundschaften.“ Den Moment, als er zum ersten Mal eine Norm auf dem Tisch hatte, an der er selbst mitgearbeitet hatte, beschreibt er als Schlüsselerlebnis. „Keine Ahnung, wie viele zig Stunden ich da in Diskussionen und Iterationen reingesteckt habe. Aber dann zu sehen, dass da wirklich was Gutes draus entstanden ist, das macht einen schon stolz.“

Gute Gründe für „langsame“ Prozesse

Was Gerold Schulze von p&e aber besonders nervt: die fehlende Flexibilität des Systems. Für sein junges Unternehmen mit begrenzten Ressourcen ist das eine Herausforderung. „In der Wirtschaft entwickeln wir Produkte flexibel, probieren viel aus und machen dabei Fehler. In der Normung reden wir monatelang darüber, was in einem Dokument stehen soll.“ Normung macht also zunächst Arbeit. Die Prozesse sind vielfach langwierig, mitunter dauert es mehrere Jahre, bis eine Norm wirklich final verabschiedet ist. Das Vorgehen – das auf dem Konsenzverfahren beruht – hat aber gute Gründe: Eine Norm, auf die sich eine große Anzahl von Fachleuten mit vielfältigen Hintergründen, unter Einbezug von interessierten Kreisen wie Verbraucherschutz und der Öffentlichkeit, geeinigt haben, steht für eine hohe Sicherheit und eine hohe Qualität. Sie sind fair und versprechen eine hohe Akzeptanz und Langlebigkeit im Markt. Dazu muss man wissen, dass der wirtschaftliche Faktor durch die Anwendung von Normen tatsächlich immens ist. Dank Effizienzsteigerungen und Kosteneinsparungen liegt der volkswirtschaftliche Nutzen allein für Deutschland bei 17 Milliarden Euro pro Jahr. 

Marktmacht weckt Begehrlichkeiten. So hat Ende der 2010er Jahre ein chinesisches Unternehmen einen internationalen Normentwurf für Thermografie-Kameras eingebracht – der auffällig detailliert war, exakt auf deren eigene Produkte gemünzt war und ihnen einen massiven Wettbewerbsvorteil verschafft hätte. Widerstand regte sich, der Entwurf wurde in den internationalen Normungsdiskussionen unter anderem von einer Gruppe deutscher Experten um Dirk Boguhn zurückgewiesen: „Man versucht dann, sich auf Grundanforderungen zu einigen, lässt aber Spielraum für verschiedene Lösungsansätze. Das ermöglicht Innovationen, ohne zu restriktiv zu sein.“ Heute greift für Thermografie-Kameras eine Technische Spezifikation der Internationalen Elektrotechnischen Kommission (IEC), auf deren Inhalt auch Dirk Boguhn mit Einfluss genommen hat. 

Vernetzter, smarter, effizienter: Die Zukunft der Normung

Auch die Normungswelt digitalisiert sich, den Normungsprozess und die Normen selbst in rasantem Tempo. Wo es früher ausschließlich persönliche Treffen gab, ziehen hybride Sitzungen und virtuelle Arbeitsgruppen ein. Über digitale Plattformen, Kollaborationstools oder Webkonferenzen können Expertinnen und Experten aus aller Welt in Echtzeit an Normungsdokumenten arbeiten. Das spart nicht nur Reisezeit und Kosten, sondern ermöglicht auch eine effizientere Abstimmung und Arbeitsweise.

Ein weiterer wichtiger Schritt sind Smart Standards: digitale, maschinenlesbare Normen, die direkt in Unternehmensprozesse, Softwarelösungen und Prüfverfahren eingebunden werden können. Statt statischer PDF-Dokumente ermöglichen digitale Normeninhalte eine flexible, modulare und automatisierte Anwendung – beispielsweise für Produktentwicklungen, Qualitätssicherung oder digitale Zwillinge in der Industrie. Mit der zunehmenden Digitalisierung werden die Normungsarbeit und die Normenanwendung nicht nur agiler, sondern auch für Unternehmen einfacher zugänglich.


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Normung lebt vom Mitmachen!

Die Möglichkeiten mit Normung die Zukunft zu gestalten sind vielfältig:

  • Normen sind im Entwurf? Stellung nehmen und Kommentare einsenden!
  • Normen sind lückenhaft oder fehlen? Einen Normenantrag stellen!
  • Sie wollen mitentscheiden? Kostenfreie Mitgliedschaft als Expertin oder Experte beantragen!

Wir freuen uns, Sie in den Normungsgremien der DKE begrüßen zu dürfen.

Jetzt in der Normung mitmachen

Wann lohnt sich die aktive Beteiligung in der Normung?

Normen bringen nicht nur technische Sicherheit in der Anwendung. Sie sorgen auch dafür, dass die eigenen Produkte mit anderen kompatibel sind und bieten rechtlich Sicherheit, wenn sie korrekt angewendet worden. Durch Sicherheit und Interoperabilität genießen genormte Produkte zudem ein hohes Vertrauen. Gerade bei neuen Produkten, Innovationen oder aufkommenden Technologien helfen Normen dabei, schneller in den Markt zu kommen. Alles gute Gründe dafür, sich zu engagieren.

Sich an der Normung zu beteiligen – die Entscheidung hängt auch von anderen Faktoren ab. Viele stellen sich die Fragen: Wie fruchtbar ist der Austausch mit gleichgesinnten Fachleuten für mich und mein Unternehmen? Und stimmt bei begrenzten Ressourcen – siehe Startups wie p&e – das Kosten-Nutzen-Verhältnis? Gerold Schulze selbst ist sich noch nicht sicher, ob sich die Investition in die Normung für sein Unternehmen lohnt. „Unser Engagement kostet Zeit und Kraft – und durchschlagende Erfolge habe ich noch nicht gesehen. Daher kann ich nicht sagen, ob ich bis zur Verabschiedung des Normenentwurfes dabeibleiben werde.“ Dirk Boguhn hingegen hat seine Antwort gefunden. „Man kann sich ärgern, dass Prozesse dauern. Oder man kann sich einbringen und mitgestalten.“ Der wichtigste Punkt bleibt: Normen entstehen nicht von selbst. Sie werden von denen gemacht, die mitreden.

Normung lebt von Expertinnen und Experten aus der Praxis

Wer mitgestalten will, kann sich bei der DKE einbringen. Alle aktuellen Angebote zum Mitmachen finden Sie in unseren Call for Experts und monatlich im Newsletter der DKE. Mitmachen können Sie auch, indem Sie einen eigenen Normantrag stellen, zu Normentwürfen öffentlich Stellung nehmen oder sich als Expertin oder Experte bei der DKE registrieren: https://www.dke.de/de/mitmachen. Die Mitarbeit in den Gremien der elektrotechnischen Normung in Deutschland ist kostenfrei und wird unter bestimmten Bedingungen gefördert.


Redaktioneller Hinweis:

Die Antworten entsprechen den persönlichen Ansichten und Meinungen des Interviewpartners und müssen nicht denen der DKE entsprechen.

Wir bedanken uns für den Beitrag für diese Reportage ...

Dirk Boguhn

Dr.-Ing. Dirk Boguhn

Ist Bereichsleiter Innovation bei der INGUN Prüfmittelbau GmbH in Konstanz, einem Hersteller von elektrischen Prüf- und Kontaktierlösungen, tätig. Nach einem Ingenieur-Studium und Promotion an der TU Ilmenau (Elektrotechnik mit Schwerpunkt Prozessmess- und Sensortechnik) war er bei mehreren Herstellern von Prozessmesstechnik im Bereich Forschung und Entwicklung tätig gewesen.

Seit 2007 ist er in der Nomrung aktiv, aktuell im DKE K961 „Elektrische Messgrößenaufnehmer“ und UK961.1 „Elektrische Messumformer“, sowie deutscher Vertreter in der IEC TC65/SC65B/WG6 „Testing and evaluation performance“.

Dirk Boguhn

Ist Bereichsleiter Innovation bei der INGUN Prüfmittelbau GmbH in Konstanz, einem Hersteller von elektrischen Prüf- und Kontaktierlösungen, tätig. Nach einem Ingenieur-Studium und Promotion an der TU Ilmenau (Elektrotechnik mit Schwerpunkt Prozessmess- und Sensortechnik) war er bei mehreren Herstellern von Prozessmesstechnik im Bereich Forschung und Entwicklung tätig gewesen.

Seit 2007 ist er in der Nomrung aktiv, aktuell im DKE K961 „Elektrische Messgrößenaufnehmer“ und UK961.1 „Elektrische Messumformer“, sowie deutscher Vertreter in der IEC TC65/SC65B/WG6 „Testing and evaluation performance“.

Gerold Schulze, Geschäftsführer p&e power&energy GmbH

Gerold Schulze

Gründer und Geschäftsführer des Start-up p&e power&energy GmbH, das seit 2018 Leistungselektroniklösungen für Batteriespeicheranwendungen entwickelt und beim DKE Start-up Preis 2024 den dritten Platz holte. Er hält einen Master of Business Law (M.B.L.) in „Wirtschaftsrecht für Technologieunternehmen“, einen Master of Science (M.Sc.) „Regenerative Energien und Energieeffizienz“ und ist Dipl.-Ing. (BA) Elektrotechnik – Energietechnik. Zudem ist er Erfinder und Miterfinder mehrerer erteilter Patente.

Seit 25 Jahren ist er als Anwender mir der Normung vertraut und seit 2 Jahren Mitarbeitender im DKE/AK 371.0.18 „Reparierbarkeit von Batterien“.

Gerold Schulze, Geschäftsführer p&e power&energy GmbH

Gründer und Geschäftsführer des Start-up p&e power&energy GmbH, das seit 2018 Leistungselektroniklösungen für Batteriespeicheranwendungen entwickelt und beim DKE Start-up Preis 2024 den dritten Platz holte. Er hält einen Master of Business Law (M.B.L.) in „Wirtschaftsrecht für Technologieunternehmen“, einen Master of Science (M.Sc.) „Regenerative Energien und Energieeffizienz“ und ist Dipl.-Ing. (BA) Elektrotechnik – Energietechnik. Zudem ist er Erfinder und Miterfinder mehrerer erteilter Patente.

Seit 25 Jahren ist er als Anwender mir der Normung vertraut und seit 2 Jahren Mitarbeitender im DKE/AK 371.0.18 „Reparierbarkeit von Batterien“.


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