Eine Mutter sitzt mit ihrem Baby vor der Waschmaschine im Waschraum
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05.09.2022 Fachinformation

Anti-circumvention: Warum die Industrie Regeln braucht, um Regeln einzuhalten

Spätestens seit dem Dieselgate und den dabei verschleierten Fahrzeugemissionen ist auch der breiten Masse klar: Die Industrie nutzt beim Testen Schlupflöcher, um Standards zu umgehen und das eigene Produkt besser darzustellen, als es ist. Diese Grauzone benötigt mehr Schwarz und Weiß – und weniger Interpretationsspielraum.

Deshalb beschäftigt sich beispielsweise die DKE mit dem Thema Anti-circumvention (deutsch: Anti-Umgehung). Und erarbeitet Normen, die die Umgehung von Messvorschriften reduzieren oder auch verhindern, damit Verbraucher*innen das bekommen, was sie von den Herstellern erwarten.

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Von einfühlsamen Geschirrspülern und cleveren Waschmaschinen

Geöffnete Spülmaschine mit Geschirr
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Teller. Tassen. Besteck. Schmutziges Geschirr, wohin der Blick auch fällt. 

In der Spüle, auf der Arbeitsfläche, und überall dort, wo es längst nicht mehr stehen sollte. Clara ist 31, lebt in einer Altbauwohnung in der Stadt und liebt es, wenn alles in Ordnung ist. Aber seit der Geburt ihrer Tochter Emma schafft sie es kaum noch, abzuwaschen. Weil die Zeit fehlt. Oder weil sie nicht mit dem Geschirr klappern möchte, wenn ihr Baby schläft. Deswegen will sie sich eine Geschirrspülmaschine kaufen. Eine, die möglichst leise ist, sagt sie. Deswegen vergleicht Clara, liest die Herstellerangaben und studiert online die umfangreichen Tests. Auf die ist ja schließlich Verlass. Oder?

Eigentlich ja. Denn im unabhängigen Labor, das solche Produkte prüft, herrschen dafür feste Regeln. Beim Geschirrspüler-Test kam bisher klares Wasser zum Einsatz, denn Spülmittel dämpft nämlich die Geräusche. Doch genau hier gibt es bei modernen, intelligenten Geräten Potenzial für eine Umgehung: Integrierte Sensoren können das unverschmutzte Wasser erkennen und das Gerät könnte daraus schließen, dass es sich in einer Testsituation befindet. Es könnte also seine Akustik daran anpassen. Und im echten Leben so laut sein, dass die kleine Emma davon wach wird.

Um genau solche Schlupflöcher zu stopfen – und damit Clara genau die Leistung bekommt, die sie stundenlang recherchiert hat – erarbeiten Expertinnen und Experten Normen zum Testen von Elektrogeräten. Beim Geschirrspüler beschreibt die DIN EN 60436 ausführlich und im Sinne der Anti-circumvention, unter welchen Bedingungen das Haushaltsgerät unter die Lupe genommen werden muss.

Schummeln verboten. Vor allem im Haushalt.

Die Liste von potenziellen Umgehungen bei Haushaltsgeräten ist lang. Für Clara kann nicht nur das Geräusch des Geschirrspülers lästig sein. Entfernt zum Beispiel die Waschmaschine nicht alle Flecken aus der Kleidung, weil das Labor nicht richtig getestet hat, muss die junge Mutter häufiger waschen, verbraucht mehr Wasser und Strom – und ärgert sich. Deswegen benötigen auch Waschmaschinen, sowie alle anderen Haushaltsgeräte, beim Produkttest einheitliche Normen und Standards.

Dafür bestimmt die Norm DIN EN 60456 die Messung der Gebrauchseigenschaften. Gewicht und Alter der Textilien in der Prüfbeladung, das Material der Stoffe und sogar die Faltung von einzelnen Kleidungsstücken können Einfluss auf die Ergebnisse nehmen. Deshalb müssen Labore die Vorgaben sorgfältig umsetzen. Am Ende geht es schließlich um Verbraucher- und Klimaschutz. Um Sicherheit und einen fairen Wettbewerb.


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Flecken entfernen statt Greenwashing

Klingt logisch, ist aber sehr komplex. Die EU-Normen funktionieren zwar zu 98 Prozent international, doch wegen des hohen Tempos, in dem sich Technologien wie Sensorik und Künstliche Intelligenz entwickeln, gibt es jede Menge potenzieller Schlupflöcher für die Industrie. Um Betrugsversuche künftig aber früher zu erkennen und passende Rahmenbedingungen für Testszenarien zu schaffen, investierte die Europäische Union in das Horizon 2020 Projekt AntiCSS – Anti-circumvention of Standards for better market surveillance. Forschende, Energieagenturen und Marktüberwachungsbehörden verschiedener EU-Länder analysieren dafür Möglichkeiten zum Umgehen von Standards und Vorschriften bei den Ökodesign- und Energielabel-Richtlinien der EU.

Der AntiCSS-Abschlussbericht deckt auch in anderen Industriezweigen Gefahren für die Manipulation von Produkten auf, analysiert mögliche Grauzonen für Unternehmen und beschäftigt sich mit den sogenannten Gefährdungseffekten. Diese entstehen durch Schwächen in den Vorschriften und Standards und können zu verfälschten Ergebnissen führen. Ausgangspunkt des Projekts war der Abgasskandal, bei dem Autohersteller ihre Dieselfahrzeuge mithilfe von Abschalteinrichtungen so manipuliert haben, dass beim Testen akzeptable Emissionswerte angezeigt wurden. In der Realität wurden die Grenzwerte jedoch maßgeblich überschritten.

Europäische Union sagt Schlupflöchern den Kampf an

Für die Zukunft empfiehlt die AntiCSS-Projektgruppe, den Weg für Umgehungen ganz zu versperren. Der Abschlussbericht plädiert vor allem für eine Erweiterung der gesetzlichen Definition der Umgehung in Bezug auf die Ökodesign-Verordnungen und die Energieverbrauchskennzeichnung. Auf diese Weise sind die Labore in der Lage, Umgehungsversuche bereits frühzeitig zu erkennen und zu melden, damit die Behörden direkt rechtliche Schritte einleiten können. Verbraucher*innen wie Clara wären so besser vor Manipulationsversuchen geschützt und könnten den Herstellerangaben mehr Vertrauen schenken.

Außerdem setzt die Expertengruppe die pflichtbewusste Umsetzung durch alle Beteiligten voraus. Die Labore sollen ihre Testmethoden regelmäßig auf Schlupflöcher überprüfen, an technische Neuentwicklungen in den jeweiligen Branchen anpassen und den Testrahmen gegebenenfalls modifizieren. Die Forschungsgruppen prüfen zudem die Normen und Gesetze engmaschiger auf ihre Aktualität.


Nutzen Sie unsere VDE Zeichen als Imagefaktor und Wettbewerbsvorteil
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Haushaltsgeräte: Prüfung und Zertifizierung im VDE Institut

Im Haushalt spielen neben einem niedrigen Energieverbrauch und der einfachen Handhabung auch die Gewährleistung von Qualität und Sicherheit eine entscheidende Rolle – nicht nur aus Haftungsgründen, sondern auch als Imagefaktor und nicht zuletzt als Wettbewerbsvorteil für Unternehmen.

Das VDE Institut prüft und zertifiziert Haushaltsgeräte nach aktuell gültigen Normen und Standards und zeichnet sie mit Prüfsiegeln für den nationalen und internationalen Markt aus.

Dienstleistungen für Haushaltsgeräte beim VDE Institut

Teamwork nach Leitfaden

Auch bei der europäischen Normungsorganisation CEN-CENELEC steht das Thema AntiCSS hoch im Kurs. Ihre Ökodesign-Koordinierungsgruppe betreibt eine Task Force, die sich mit der Prävention von Umgehungen beschäftigt. Die Gruppe erarbeitete den Leitfaden Guidelines for Anticircumvention in standards supporting Ecodesign and Energy labels.

Das Ziel: Verschiedene Komitees unterstützen, Prüfverfahren in den Normen und Standards so beschreiben, dass Umgehungen verhindert werden. Vor allem Komitees, die sich mit Hausgeräten auseinandersetzen, beispielsweise IEC/TC 59 (DKE/K 513), sind hier sehr aktiv und profitieren von diesem Engagement. Außerdem dient der Leitfaden als Blaupause für andere Bereiche, in den Umgehungen ebenfalls häufig vorkommen.

In der Industrie führt kein Weg an einheitlichen Normen und Standards vorbei. Sie zu erarbeiten, zu überprüfen und einzuhalten, ist jedoch eine interdisziplinäre Aufgabe: Gesetzgeber, Marktüberwachung, Forschungsgruppen, Organisationen und Kommissionen müssen an einem Strang ziehen. Und benötigen dafür nicht nur ihr Wissen, sondern auch die entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen. Das fördert Weiterentwicklungen, von denen vor allem Verbraucher*innen profitieren. Menschen, die fair informiert werden wollen, weil sie einen konkreten Bedarf haben und bereit sind, dafür auch mehr Geld zu investieren. Menschen wie Clara, die ihre Zeit lieber für ihre Tochter Emma nutzt. Und die es liebt, wenn eben alles in Ordnung ist.

Redaktioneller Hinweis:

Die im Text aufgeführten Normen können Sie im VDE VERLAG erwerben.

Zum VDE VERLAG

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