Ein Industriewerk in der Morgendaemmerung
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09.06.2022 Fachinformation

Sektorenkopplung mit Industrie muss fossile Prozesswärme substituieren

Rund 29 Prozent der Endenergie in Deutschland verbraucht die Industrie; zwei Drittel davon als Wärme. Power-to-Heat-Technologien sowie perspektivisch grüner Wasserstoff sollen die heute verwendeten fossilen Rohstoffe ersetzen. Die Umwandlungsprozesse zur Wärmeerzeugung aus dem schwankenden Angebot erneuerbarer Energie brauchen eine datentechnische Verknüpfung in Echtzeit. Dafür müssen die Normungsgremien heutige Normen weiterentwickeln.

VDE, DKE und DIN arbeiten zudem an neuen Normen für das Energiemanagement in der Industrie sowie SMART Standards.

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Dr. Michael Rudschuck

Substitution von fossilen Energien nur mittel- bis langfristig machbar

Etwa 67 Prozent des Endenergieverbrauchs der Industrie kommen als Prozessdampf zum Einsatz, der bisher überwiegend mit fossilen Energieträgern erzeugt wird. Eisen- und Kunststoffverarbeitung, Beton- und die Chemische Industrie sowie Lebensmittel- und Papiererzeugung arbeiten mit Prozesswärme, oftmals über 400 Grad Celsius. Sie durch Strom aus erneuerbaren Energien und grünem Wasserstoff zu ersetzen, ist technisch zwar möglich, aber der Umbau solcher Anlagen wird Jahre in Anspruch nehmen, denn in den meisten Großanlagen, Chemie- und Industrieparks wird Prozessdampf zentral erzeugt. Solche Anlagen haben genauso wie Hochöfen Laufzeiten jenseits von 20 Jahren. Diese Dimension wird vor allem in zwei Branchen deutlich, die mit der Sektorenkopplung von fossilen Brennstoffen unabhängig werden sollen.

Stahl- und Chemieindustrie brauchen Planungssicherheit

Die Chemiebranche verbrauchte 2015 etwa 171 TWh Energie; rund 51 TWh Strom und damit zehn Prozent der erzeugten Strommengen. Zusätzlich benötigte sie fast 57 TWh Energie aus Erdgas, über 11 TWh aus Kohle und fast 15 TWh aus Erdöl. Die Grundstoffchemie ist ein besonders großer Verbraucher. Hier spielen energieintensive Prozesse, wie die Dampfreformierung und „Steamcracken“ von Kohlenwasserstoffen sowie die Chloralkalielektrolyse, eine zentrale Rolle. Die Kohlenwasserstoffe der fossilen Energieträger dienen neben der Wärmeerzeugung auch selbst als Rohstoff für die Produktion von Grundstoffen wie Ethylen, Propen und Methanol.

Die Stahlindustrie hatte 2015 einen Gesamtenergiebedarf von rund 168 TWh. Sie verbrauchte zwar nur 25 TWh Strom, aber immerhin 133 TWh Kohle und 21 TWh Erdgas. In der Summe müssen also nur für diese beiden Branchen über die Sektorenkopplung künftig rund 237 TWh aus fossilen Energien durch erneuerbare Energien substituiert werden.

Für den Umbau sind Investitionen von mehreren Milliarden Euro notwendig. Diese Investitionen wird die Industrie nur budgetieren, wenn sie für 10 bis 20 Jahre Planungssicherheit hat. Hierfür ist nicht nur die Politik gefordert, die entsprechenden regulatorischen Rahmenbedingungen zu schaffen. Auch die Normen der Zukunft müssen die Sektorenkopplung begleiten, sie idealerweise forcieren sowie absichern.


Strommasten mit Cyber- und physischen Systemicons in der Industrie 4.0
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Sektorenkopplung: Erneuerbare Energien werden grundlastfähig

Der Umbau der Energiemärkte auf Erneuerbare Energien stellt weitreichende Anforderung an alle Marktteilnehmer. Eine klimaneutrale Gesellschaft und Wirtschaft brauchen für Energieerzeugung und -verteilung sowie Nachfragesteuerung und Speicherung neue Konzepte und Strategien. Diese müssen Netzstabilität und hohe Verfügbarkeit bei gleichzeitiger Versorgungssicherheit garantieren. Ein Schlüssel dafür liegt in der Sektorenkopplung. Technische Lösungen dafür bieten die Verwaltungsschale und Smart Standards, die zusammen von DKE und DIN erarbeitet werden.

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Heute bereits Standard: KWK, Abwärmenutzung sowie Hüttengasverstromung

Für die Industrie ist die Sektorenkopplung allerdings keine neue Erfindung. Im Gegenteil: die hohen Energie- und Rohstoffpreise haben schon lange zu einem Umdenken geführt. So gehört der Einsatz von Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) in der Chemieindustrie bereits seit langer Zeit zum Standard. KWK deckt dort bereits 30 Prozent des Energiebedarfes. Sie erzeugt sowohl Wärme als auch Strom mit einem Wirkungsgrad von bis zu 90 Prozent.

Einige Stahlwerke speisen Abwärme in Fernwärmenetze ein oder nutzen die interne Wärme für nachfolgende Prozesse. Durch die Verstromung von Prozessgasen können Stahlwerke sogar schon aktuell Reserveleistungen für die Netzstabilität anbieten. Nun muss dieser bisher überwiegend intern gemanagte Energieaustausch mit der Sektorenkopplung bidirektional und auch mit externen Anlagen gestaltet werden. Die Schlüsseltechnologien der Zukunft sind Power-to-Heat und Power-to-Liquid in Form von Wasserstoff oder Power-to-Gas als Methan beziehungsweise Erdgas.

Noch sind viele Power-to-X-Technologien unwirtschaftlich

Die technologischen Grundlagen für die Wasserstoff- und Erdgasproduktion sind vorhanden. Allerdings verbraucht die Umwandlung 30 bis 40 Prozent des eingesetzten Stroms und ist damit bisher wirtschaftlich nicht rentabel. Für Power-to-Heat stehen ebenso bewährte Technologien bereit wie Wärmepumpen, Elektrodenkessel, Lichtbogenöfen und dezentrale Erzeugungsanlagen für Prozessdampf. Allerdings liegt der Wirkungsgrad solcher Systeme noch niedriger und ist ebenso bisher unwirtschaftlich. Wobei die Frage nach dem Wirkungsgrad in den Hintergrund treten kann, wenn die fossilen Energien immer teurer werden und genügend Überschussenergie aus erneuerbaren Anlagen zur Verfügung steht. Dann werden auch Power-to-X-Technologien wirtschaftlicher.

Eine ebenso wichtige Herausforderung liegt im Lastmanagement zwischen dezentral aufgestellten Akteuren aus Millionen kleinen Erzeugungsanlagen und ebenso vielen Anlagen mit schwankender Nachfrage. Normen müssen hier Schnittstellenfunktion beschreiben, um Energiemanagement einerseits in einem Industriekomplex zu gestalten und andererseits die nachgefragten und bezogenen Energien mit den Verteilernetzen und externen Erzeugungs- und Speicheranlagen zu koppeln.


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Status Quo: Normung für Energiemanagement in der Industrie

Der Industriesektor kann als wesentlicher Energieverbraucher und gleichzeitig wichtiger Energieerzeuger künftig eine wichtige Rolle für die Leistungsregelung und Netzstabilität spielen. Er muss dafür Energiemanagementsysteme einsetzen, die über die lokale Ebene hinaus interoperabel mit dem Verteilnetz sind.

Schon heute bedeutet ein optimales Energiemanagement in einer Industrieanlage eine Koordination der Energieflüsse zwischen verbundenen Anlagen. Die Normen für Energiemanagementsysteme für Industrieanlagen müssen künftig aber weiterentwickelt werden, um die verfügbaren Energien effektiver zwischen Angebot und Nachfrage über die Sektorengrenzen hinweg zu managen.

Genau daran arbeiten DIN, VDE und DKE gerade auf nationaler und internationaler Ebene. Mit der Erarbeitung der Norm DIN EN IEC 63376 Facility Energy Management Systems (FEMS) definieren sie neue Regeln, um die Interkonnektivität zwischen Anlagen und anderen verbundenen Systemen zu optimieren.

Demand Response Energie Management bereits IoT-konform

Mit der Norm DIN EN IEC 62872-2 „Facility Demand Response Energy Management“ (FDREM) entsteht gegenwärtig eine Schnittstelle für die Interoperabilität mit den Verteilnetzen und Speichertechnologien.

FDREM identifiziert und erweitert bestehende Normen, um den erforderlichen Informationsaustausch für Planung, Management und der Steuerung des elektrischen Energieflusses zwischen Industrieanlagen und dem Verteilnetzen, dem Smart Grid, zu gewährleisten. Das FDREM-Anwendungsrahmenwerk vernetzt Industrieanlagen über moderne Informations- und Kommunikationstechnologien mit dem Stromnetz. Die dadurch entstehende Interkonnektivität und Interoperabilität ermöglichen zentrale Funktionen für ein nachfrageorientiertes und preisbasiertes Lastmanagement.

Die Norm ist in die Energieversorger- und die industrielle Strombedarfsseite unterteilt, wobei der Stromzähler, ähnlich wie ein Smart Meter, im Gebäudesektor die Grenze zwischen den beiden Parteien markiert. Funktionen, die für ein automatisches Lastmanagement wesentlich sind, werden in diesem Rahmenwerk beschrieben. FDREM orientiert sich dabei bereits an den Normen für das Internet der Dinge (IoT). Die Norm DIN EN IEC 62872-2 ist mit der in ISO/IEC 30141 genormten IoT-Referenzarchitektur konform.

Verwaltungsschale gibt Norm eine Rolle im IoT

Damit ist das FDREM bereits vorbereitet, künftig in der Verwaltungsschale seine Norminhalte für andere Akteure bereitzustellen. Die Verwaltungsschale ist ein herstellerübergreifender und branchenneutraler Standard für Anwendungen in der Industrie 4.0.

Jedes „Ding“ im „Internet der Dinge“ erhält künftig eine eigene Verwaltungsschale. Die Verwaltungsschale funktioniert so ähnlich wie ein Personaldokument. Sie kann somit die Basis für ein digitales Typenschild oder einen digitalen Produktpass sein. Sie basiert dabei auf dem Modell des Digitalen Zwillings, das in der Plattform Industrie 4.0 konzipiert wurde, und ist aufgebaut in einem Schichten- und Koordinatensystem, in dem Informationen über ein „Ding“ systematisiert bereitgestellt werden.

In der Verwaltungsschale liegen abhängig vom Produkt in den verschiedenen Schichten Teilmodelle. Diese enthalten Eigenschaften und Fähigkeiten einer Anlage oder Maschine sowie abhängig vom Geschäftsmodell Anweisungen und Dateien (Bedienungsanleitung, Bauplan, Entsorgungsvorschriften). Auch Normen können über das „Teilmodell Norm“ ihre Informationen bereitstellen und erhalten in der Verwaltungsschale eine wichtige Rolle.

Teilmodell digitale Norm

Neben Informationen bietet die Verwaltungsschale auch eine Anwendung zur Aufzeichnung und Kommunikation. Jede autorisierte Maschine oder Person kann diese Informationen auslesen, wenn sie mit der Verwaltungsschale eines anderen „Akteurs“ interagiert. Für die Sektorenkopplung bedeutet dies, dass über das FDREM Norminhalte bereitgestellt werden, um beispielsweise bei einer Power-to-X-Technologie einem anderen Akteur Regeln für Lade- und Entladeprozesse mitzuteilen.

Die Verwaltungsschale wird international in der Normenreihe IEC 63278 genormt. Parallel arbeiten DIN, VDE und DKE an einer neuen „Norm für digitale Normen“, den SMART Standards. Dieses werden in der Verwaltungsschale sogar kommunikationsfähig werden, um in der Sektorenkopplung automatisierte Aushandlungsprozesse mit anderen Akteuren zu gestalten.

SMART Standards machen Normen zu digitalen Akteuren

SMART Standards sollen künftig im „Teilmodell Norm“ ihre feingranulierten Daten über standardisierte Datenmodelle für die automatisierte Anwendung bereitstellen. SMART Standards ist ein Konzept für die Digitalisierung von Normen für die Anwenderebene. Sie sollen künftig in einem digitalen Ökosystem alle relevanten Informationen über sich in passender Weise und Umfang für die Anwendung durch andere Akteure oder ihre digitalen Systeme bereitstellen.

SMART Standards sollen „sowohl von Menschen als auch von Maschinen initiiert, erstellt, aufbereitet, umgesetzt und angepasst werden“, hat die IDiS (Initiative Digitale Standards) diesen künftigen Normenstandard definiert. Mit dieser Zielvorstellung denken die IDiS-Expert*innen die Normen der Zukunft als digital handelnde Akteure, die Prozesse mitgestalten und für eine sichere Interpretation und Anwendung, auch im Umgang mit anderen Normen, sorgen soll.


Darstellung von Standardisierungsicons, welche von einem Finger angetippt werden
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SMART Standards digitalisieren die Normanwendung

Mit der Sektorenkopplung für die Energiewirtschaft sollen sich künftig Millionen Gebäude, Fahrzeuge, die Industrie sowie Energieerzeugung und Infrastruktur zu einem Megaenergienetz vereinen. Das hat Folgen für die Normanwendung. DKE und DIN erarbeiten deswegen in der „Initiative Digitale Standards“ (IDiS), was Normen in Zukunft leisten müssen, damit sie künftig digitale Akteure (SMART Standards) werden.

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Fazit: SMART Standards übernehmen Schlüsselrolle der Sektorenkopplung

Unklar ist, wie schnell in einzelnen Industrien der Transformationsprozess sowohl bei der Weiterentwicklung als auch Anwendung von digitalen Normen umgesetzt werden kann. Einige Prozesse werden auch künftig auf fossile Energieträger angewiesen sein. Gleichwohl können sie wie bei der Stahlproduktion mit Wasserstoff als Substitut für die Kohleinblasung inkrementell auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Andere Prozesse und Anlagen sind angesichts von langen Planungszyklen von bis zu 20 Jahren nicht so schnell wirtschaftlich ersetzbar.

Ob die Industrie bis 2040 komplett auf fossile Energien verzichten könnte, bleibt unsicher. Viel hängt auch davon ab, wie sich die Power-to-X Technologien weiterentwickeln. Viele Stadtwerke planen zurzeit den Ausbau ihrer thermischen Abfallverwertungsanlagen und werden im Wärmemarkt der Zukunft auch für die Industrie eine größere Relevanz mit Fernwärme entfalten. Wenig absehbar ist auch, wie sich das Wasserstoffangebot und die Preise mittel- bis langfristig entwickeln werden. Wobei die aktuelle Energiekrise durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine für die Preise fossiler Energien wohl maßgeblich Einfluss auf die weitere Entwicklung nehmen dürfte. Denn je teurer die fossilen Energien werden und je schneller das Angebot mit Strom aus erneuerbaren Energien steigt, desto wirtschaftlicher werden auch Power-to-Heat- sowie Power-to-Gas-Verfahren.

Mit SMART Standards und den digitalen Normen für das sektorenübergreifende Last- und Energiemanagement steht in jedem Fall bereits heute ein Anwendungsrahmenwerk bereit. Für die Sektorenkopplung könnten SMART Standards künftig die Schlüsselrolle übernehmen, damit nachfrageorientiert und automatisiert Energieflüsse optimal gestaltet werden, ohne dass ein Akteur unterversorgt bleibt.

Redaktioneller Hinweis:

Die im Text aufgeführten Normen und Standards können Sie beim VDE VERLAG erwerben.

Zum VDE VERLAG

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