Solarmodul in Madagascar
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15.05.2023 Fachinformation

Eine Norm für das Gemeinwohl

Vimal Mahendru, Chair des IEC Standardization Management Board (SMB) und Vorsitzender des Systems Committee for LVDC (Niederspannungsgleichstrom), liefert einen spannenden Bericht über die Entwicklung der bahnbrechenden neuen Norm für den Zugang zu Elektrizität in Entwicklungsländern.

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Interview mit Vimal Mahendru

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Ein Beitrag von Catherine Bischofberger

e-Tech: Was veranlasste die IEC dazu, sich mit einer Norm für den Zugang zu Niederspannungsgleichstrom (LVDC) zu beschäftigen?

Mahendru: Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein wenig ausholen. Wie Sie wissen, komme ich aus Indien, einem Schwellenland, das viele Herausforderungen zu bewältigen hat. Jedem indischen Haushalt den Zugang zu Elektrizität zu ermöglichen, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Ich war privilegiert, da ich in eine Familie hineingeboren wurde, die in der Stadt lebte und Zugang zu dieser wertvollen Ressource hatte. Die indische Regierung war sich des Problems bewusst und ihr war klar, dass sie einen Weg finden musste, um die 320 Millionen Menschen in meinem Land, die keinerlei Zugang zu Elektrizität hatten, mit Elektrizität zu versorgen.

Eine Option, die auf großes Interesse stieß, war die Möglichkeit, Gleichstrom-Microgrids aufzubauen, um den Menschen einen kostengünstigen Zugang zu Elektrizität zu ermöglichen. Dies veranlasste die Regierung dazu, sich mit dem Bureau of Indian Standards (BIS) bezüglich Gleichstrom-Microgrids in Verbindung zu setzen. Zu der Zeit leitete ich den Verband der Hersteller von Elektro- und Elektronikprodukten in Indien. Das BIS fragte uns um Rat und wir sind gemeinsam auf die IEC zugegangen, da sie die Organisation ist, die alle internationalen elektrischen und elektrotechnischen Normen veröffentlicht.

Wir haben die IEC im Oktober 2013 besucht und dabei über das Thema Zugang zu Elektrizität gesprochen. Das IEC SMB entschied sich dazu, eine neue Standards Evaluating Group, SEG 4, einzurichten. Zu meiner großen Überraschung wurde ich gefragt, ob ich die Rolle des Convenor dieser Gruppe übernehmen wolle. Pierre Sebellin war der Technical Officer von SEG 4 und ich muss sagen, dass die SEG eine großartige Erfahrung war. Wir haben hart daran gearbeitet, einen Konsens innerhalb der gesamten Gemeinschaft zu erzielen. Ich hatte das Glück, dass ich meine eigene Lebenserfahrung einbringen und das Problem entsprechend artikulieren konnte. Wir haben rund 170 Mitglieder aus aller Welt gewonnen, die sich alle für das Thema Gleichstrom (DC) interessierten.


Solarzellenanlage und Windgeneratoren im städtischen Bereich mit Anschluss an ein intelligentes Stromnetz
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Microgrids: Wichtiger Beitrag für mehr Resilienz und Versorgungssicherheit in Energiesystemen

Mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien wächst die Anzahl dezentraler Stromerzeugungsanlagen und an Energiespeichern. Sie können netzdienlich Strom einspeisen oder auch in kleinen Einheiten als Microgrids zusammengefasst werden. Solche Inselnetze können damit unabhängig vom Stromnetz die Energieversorgung in Wohnquartieren, Dörfern oder Stadtbezirken sichern. Als Grundlage beschreiben die Normenreihen IEC 61850 und IEC 62351 Aufbau, Organisation und Kommunikation.

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e-Tech: War es einfach, einen Konsens zu erzielen?

Mahendru: Es wird für die IEC zunehmend wichtig, sich neben ihrer traditionellen Rolle der Bereitstellung von Normen zu Sicherheit und Leistung auch mit wichtigen gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. Was bedeutet Sicherheit für einen Menschen, der keinen Zugang zu Elektrizität hat? Das brachte einen Paradigmenwechsel und führte zu einigen sehr interessanten Diskussionen. Für uns hat es sich bewährt, dass wir unsere Treffen auf fünf Kontinenten abgehalten haben – in Afrika, in den USA und Südamerika, in Europa und in Asien.

Diese Rotation ermöglichte uns, viele lokale Expert*innen zu gewinnen und überall auf der Welt Interesse für unsere Sache zu wecken. Wir haben Feedback aus all diesen Regionen erhalten und die Expert*innen der IEC konnten sich selbst ein Bild davon machen, was es bedeutet, keinen Zugang zu Elektrizität zu haben. In Indien hatten sie beispielsweise die Möglichkeit, benachteiligte Gebiete zu besuchen. Das hat eine große Wirkung erzielt. Nach zwei Jahren Arbeit hat SEG 4 ihren Bericht vorgelegt.

Im Januar 2017 hat das SMB das Systems Committee for LVDC eingerichtet. Innerhalb des Systemkomitees haben wir eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich speziell mit dem Zugang zu Elektrizität beschäftigt. All die Bemühungen zur Konsensbildung führten zu der Norm IEC 63318, die erst kürzlich mit einstimmiger Unterstützung aller Länder veröffentlicht wurde. Ich freue mich, berichten zu können, dass die Technical Community diese Arbeit sehr wichtig fand und vollkommen unterstützte.


Elektroauto mit Solarzapfsäule und Windrädern
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Gleichstrom: Anwendungen in Industrie & Privatwirtschaft

Ohne Strom steht die Welt still, egal mit welcher Stromart das moderne Leben elektrifiziert ist.

Aufgrund des technologischen Fortschritts und wesentlicher Vorteile gegenüber Wechselstrom, nimmt die Bedeutung für Gleichstromanwendungen, über zahlreiche Branchen hinweg, immer weiter zu.

Für die Normung ergeben sich daraus neue Herausforderungen – vor allem im Hinblick auf vorhandene und neue Schutzkonzepte.

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e-Tech: Was waren die größten technologischen Herausforderungen?

Mahendru: Zu Beginn gab es viele unterschiedliche Ansichten zum Thema Spannungsbereiche. Einige waren der Meinung, dass die Entscheidung bezüglich der Spannungsbereiche von denjenigen getroffen werden sollte, die die Norm entwickeln. Da es aber eine Norm für Wechselstrom (AC) gibt, in der verschiedene Spannungsbereiche festgelegt sind, wurde ein Konsens erreicht, dass wir dasselbe für LVDC bzw. DC tun sollten, damit Hersteller sich auf etwas Konkretes konzentrieren können. Wenn es keine Festlegung hinsichtlich der Spannungsbereiche gibt, wo wäre dann die Norm? Und natürlich braucht es Normung, damit Skaleneffekte entstehen, die der Technologie einen positiven Schub geben.

Die andere große Hürde, die wir überwinden mussten, war der Umgang mit der AC-Infrastruktur. Sich mit dem Zugang zu Elektrizität zu beschäftigen ist das eine, aber wie lässt er sich definieren? Bedeutet es lediglich die Ermöglichung des Nutzens einer Glühbirne? Kann ein Mensch lebenslang glücklich sein, wenn er nur eine Glühbirne hat? Die Antwort lautet natürlich „nein“. Wir haben uns mit der Definition von Zugang zu Elektrizität und wie er sich mit der Zeit entwickelt nicht leichtgetan. Wie können wir eine Norm für etwas entwickeln, das sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt? Da haben wir entschieden, die mehrstufige Bewertungsplattform für den Zugang zu Elektrizität der Weltbank zu nutzen. Sie definiert fünf Stufen des Zugangs zu Elektrizität, beginnend mit einem eingeschränkten, aber immerhin vorhandenem Zugang bis zu dem, was wir in modernen Haushalten in Industrieländern haben.

e-Tech: Wie sehen Sie die Entwicklung von IEC 63318 in der Zukunft?

Mahendru: Wir sehen einen Bedarf an weiteren Verbesserungen, das heißt, die Norm aktuell zu halten, aber auch mit der Planung einer Erweiterung für Anschlüsse gemäß der Stufen 4 und 5 zu beginnen, da die aktuelle Norm nur den Zugang nach Stufe 2 und Stufe 3 ermöglicht, was ausreicht, um Geräte mit geringem Energieverbrauch, wie Ventilatoren und einfache Küchengeräte, mit Strom zu versorgen, aber nicht für beispielsweise Waschmaschinen oder Geschirrspülmaschinen. Zudem wird es Normen brauchen, die sich mit dem Anschluss an und den Schnittstellen zu einem AC-Netz auseinandersetzen. Wechselstrom wird nicht verschwinden und DC und AC werden für lange Zeit nebeneinander existieren.


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e-Tech: Wie wichtig war die Verbindung zu den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung und insbesondere SDG 7?

Mahendru: Wir haben genug Vertrauen aufgebaut, um die Norm der Welt zu präsentieren, da sie wichtige Elemente von SDG 7 adressiert. In Entwicklungsländern kann der Zugang zu Elektrizität eine Herausforderung darstellen. Aber SDG 7 ist mehr als die Ermöglichung des Zugangs zu Energie, es geht um die Ermöglichung von bezahlbarem, sauberem und nachhaltigem Zugang zu Elektrizität.

Was heißt bezahlbar? Die Definition ist in Industrieländern wie der Schweiz sicherlich nicht dieselbe wie in Schwellenländern wie beispielsweise Indien. Regierungen in Entwicklungsländern wollen eine schnelle, sichere und bezahlbare Lösung, um abgelegene Gebiete, die nicht an das Netz angeschlossen sind, mit Strom zu versorgen. Sie können nicht 15 Jahre darauf warten. Lösungen müssen schnell, bezahlbar und genauso sicher wie in Industrieländern sein.

Ein weiterer Aspekt ist die Nachhaltigkeit. Jedes noch so kleine Dorf in Deutschland hat Zugang zu Elektrizität, aber ist er nachhaltig? Die ganze Welt muss sich mit dem Thema bezahlbarer, sauberer und nachhaltiger Zugang zu Energie auseinandersetzen. Insofern hat IEC 63318 sogar noch weitreichendere Auswirkungen.

e-Tech: Ist sie auch eine Energieeffizienz-Norm?

Mahendru: Das ist sie, aber das bedeutet nicht, dass es gar keine Energieverluste mehr gibt. Wenn Sie ein Solarmodul auf dem Dach haben, sind Sie gezwungen, Gleichstrom (DC) aus dem Modul in Wechselstrom (AC) umzuwandeln, da die meisten Gebäude keine Gleichstromverkabelung haben. Das heißt, Sie müssen einen Umwandler installieren, der Gleichstrom in Wechselstrom umwandelt. Wenn Sie die Energie speichern, erfordert die Batterieanlage in Ihrem Keller, die ausschließlich Gleichstrom speichert, wieder eine Umwandlung von einer Stromart in die andere. Dann muss der Strom in Ihren Raum gelangen, damit Sie Licht haben oder Ihr Notebook aufladen können, also müssen Sie von Gleichstrom im Keller in Wechselstrom in der Verkabelung und dann wieder zurück in Gleichstrom umwandeln, da das Notebook Gleichstrom nutzt.

Selbst mit Solarmodulen auf dem Dach müssen Sie also immer noch viermal zwischen Wechselstrom und Gleichstrom umwandeln, wodurch jedes Mal Energie verloren geht. Aus diesem Grund müssen wir mit dem technischen Komitee IEC/TC 64 zusammenarbeiten, das Normen für Elektrische Anlagen erstellt, um sicherzustellen, dass wir Normen entwickeln, die eine sichere DC-Verkabelung in Gebäuden ermöglichen. Einige Länder setzen zunehmend auf Gleichstrom. In Schottland und den Niederlanden werden Gebäude mit DC-Verkabelung immer üblicher.


SDG 7

SDG 7

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SDG 7 – Bezahlbare und saubere Energie

Wie lassen sich die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen erreichen?

Die DKE leistet direkt und indirekt, einen bedeutenden Beitrag, diese Ziele mit Normen und Standards, Fachleuten und Fachgremien, Positionspapieren, Roadmaps und Veranstaltungen zu erreichen.

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e-Tech: Indische Fachleute bei der IEC haben maßgeblich zur Entwicklung von IEC 63318 beigetragen. Wie wichtig ist sie für die zukünftige Entwicklung von Normen?

Mahendru: In Indien wurde viel über die Veröffentlichung der Norm berichtet. In Technologie- und Regierungskreisen ist man sehr stolz darauf. Ich denke, das Wichtige an einer solchen Norm ist, dass sie zeigt, dass die IEC-Veröffentlichungen für das Gemeinwohl entwickelt. Es geht darum, dass Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer zusammenarbeiten, um große globale Probleme zu adressieren, die ein Land allein nicht mal im Ansatz bewältigen kann. Die Norm ist ein perfektes Beispiel für globale Einheit bei der Nutzung der IEC-Plattform und der Adressierung der Herausforderungen von Entwicklungsländern.

e-Tech: SDG 7 wird als eines der wichtigsten UN-Ziele angesehen, da es die Erfüllung anderer Ziele ermöglicht. Was ist Ihre Ansicht zu diesem Thema?

Mahendru: Einer der Gründe, warum Indien ein so großes Interesse an der Entwicklung dieser Norm hatte, war das Thema Bildung. In vielen abgelegenen Gebieten gibt es keine Schulen und Kinder müssen stundenlang laufen, um zu einer Schule zu gelangen. Internetzugang ist daher elementar, um Kindern den Zugang zu Bildung zu ermöglichen, ohne dass sie dafür die Strapazen langer Fußmärsche oder Reisen auf sich nehmen müssen.

Die medizinische Versorgung war ebenfalls eine treibende Kraft. Während der COVID-19-Pandemie mussten Impfstoffe in abgelegenen Gebieten vorschriftsmäßig gekühlt werden. Das ist nur möglich, wenn es einen Zugang zu Elektrizität gibt. Das technische Komitee IEC/TC 59 arbeitet an einer Norm für Kälteanlagen für Entwicklungsländer und das Systemkomitee SyC LVDC ist hierzu in Kontakt mit den Fachleuten von IEC/TC 59. Eine weitere Norm zum Wohl von Entwicklungsländern wird hoffentlich bald veröffentlicht werden.


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