Technologische Innovation, Digital Twin Beschriftung, welche eine Hand antippt
WrightStudio / stock.adobe.com
11.07.2022 Fachinformation

Digitale Zwillinge und intelligente Stromnetze

Unter einem Digitalen Zwilling versteht man die virtuelle Abbildung von physischen Objekten oder Systemen. Hat der Digital Twin seinen Ursprung in der Industrie 4.0, spielt er mittlerweile auch in der Energiewirtschaft und dort insbesondere im Bereich der erneuerbaren Energien sowie der Dezentralisierung von Energieversorgung und -erzeugung eine immer größere Rolle.

IEC-Logo
IEC

Von Catherine Bischofberger

Energieversorgungsunternehmen sind seit Jahren dabei, ihre Infrastruktur zu modernisieren, doch COVID-19 hat den Trend zur Automatisierung und Digitalisierung noch weiter beschleunigt, was dazu geführt hat, dass die Anzahl Digitaler Zwillinge zugenommen hat.

Kontakt
Sebastian Kosslers
Zuständiges Gremium
Downloads + Links

Digitale Zwillinge im Energiesektor sind virtuelle Abbildungen – häufig in Echtzeit – der physischen Anlagen des Stromnetzes. Sie können Energieversorgungsunternehmen dabei helfen, Planung und Standards, operative Leistung und Schulung des Personals zu verbessern. Sie bieten zudem eine Möglichkeit, um wichtige Anlagen und Systeme im Rahmen der Vorbereitung auf unterschiedlichste Szenarien, inklusive schwere Unwetter, einem Stresstest zu unterziehen. Digitale Zwillinge können auch zur Überwachung und gezielten Senkung von Kohlendioxidemissionen eingesetzt werden, um Umweltziele zu erreichen.

CIM – Normen und Standards

CIM – Normen und Standards

| DKE

„Der Energiesektor nutzt Digitale Zwillinge schon seit geraumer Zeit entlang des gesamten Lebenszyklus physischer Anlagen, angefangen bei der Planung über den Betrieb bis hin zur Wartung. Sie werden in verschiedenen Energiebereichen genutzt, von der Stromerzeugung über die Übertragung bis zur Verteilung. Aus diesem Grund hat das Technische Komitee  der IEC, TC 57  (Spiegelgremium zu DKE/K 952), Kommunikationsstandards und zugehörige Semantik auf Maschinenebene zur Unterstützung der Interoperabilität dieser Zwillinge erarbeitet. Diese finden sich in den Normenreihen zum Common Information Model (CIM) IEC 61850 und IEC 61970, die grundlegende Normen für das Smart Grid darstellen“, erklärt Laurent Guise, Experte von IEC TC 57 und einer der Gründer des IEC Systems Committee on Smart Energy (SyC Smart Energy).

Seiner Meinung nach sollten Digitale Zwillinge auf strategischer Ebene auf der Agenda stehen. „Normung für Digitale Zwillinge ist eine der obersten Prioritäten von IEC SyC Smart Energy, da sie potentiell alle technischen Komitees betrifft. Wir befassen uns mit diesem Thema in einer der Arbeitsgruppen des Systemkomitees (WG 2) und wir hoffen, dass wir diesen Anspruch in Taten umsetzen können. Eine der Herausforderungen ist, dass das Konzept des Digitalen Zwillings auf sämtliche Märkte anwendbar ist, d. h. unter anderem Gesundheit, Transport und Energie. Im Idealfall sollte bei der IEC ein Ökosystem etabliert und im Energiesektor unter Federführung des IEC SyC Smart Energy umgesetzt werden. Es würde dann in jedem einzelnen Unterbereich des Energiesektors von den Stationen bis zu den Transformatoren Anwendung finden.“

Aus Sicht des Marktes

Andrea Bonetti ist Senior Application Specialist für Relaisschutz und IEC 61850 und arbeitet bei einem schwedischen Unternehmen, das Lösungen zur Prüfung des Stromnetzes entwickelt. Das Unternehmen kann auf eine 130-jährige Geschichte zurückblicken. Es begann unter der Leitung von Sydney Evershed, dem Erfinder des Isolationsmessgeräts im Jahr 1889. Das Unternehmen ist mit der Zeit gegangen und bietet inzwischen innovative Lösungen für die Prüfung der elektrischen Schutzvorrichtungen heutiger Smart Grids. Andrea Bonetti ist zudem aktives Mitglied von IEC TC 95/MT 4 (Measuring relays and protection equipment - Functional standards), TC 95/WG 2 (Protection functions with Digital Input / Output) und TC 3/JWG 17 (Documentation of communication in power utility automation).

„Schutzrelais sind hochentwickelte Echtzeit-Computer, die die Strommengen im Netz überwachen und ihre Schutzalgorithmen nutzen, um zu überprüfen, ob es eine Störung im Stromnetz in ihrem Verantwortungsbereich gibt. Gibt es ein Problem, geben sie einen Befehl an den entsprechenden Leistungsschalter, die Energieversorgung zu unterbrechen und den Bereich, der von der elektrischen Störung betroffen ist, zu isolieren, wodurch Menschen sowie Anlagen geschützt werden“, erklärt er.

Bonetti weist darauf hin, dass die COVID-19-Pandemie die digitale Transformation des Stromnetzes beschleunigt und die Akzeptanz hinsichtlich der Verwendung digitaler Technologien in jedem mit dem Stromnetz zusammenhängenden Bereich verbessert hat. „Die Verwendung Digitaler Zwillinge ermöglicht die Durchführung von Prüfungen zu jeder Zeit und an jedem Ort, ohne geographische Schranken, und ermöglicht Fachleuten, an wesentlichen Prüfungen teilzunehmen, ohne vor Ort sein zu müssen. Zudem ist die Computersimulationsprüfung ein sehr gutes und sicheres Instrument für die Schulung neuen Personals. Sie wird Vor-Ort-Prüfungen zwar nicht komplett ersetzen, aber sie kann physische Prüfungen deutlich reduzieren, was Energieversorgungsunternehmen dabei hilft, Kosten zu senken und zu einer verbesserten Qualität des Schutzsystems beizutragen“, erläutert er.

Laut einem seiner Forschungsberichte beinhaltet der Digitale Zwilling eines Relais Schutzfunktionen, Algorithmen und Schnittstellen, die durch Computersimulationsprüfung validiert werden können, was einer Prüfung des physischen Relais selbst entsprechen würde. Das würde Ingenieuren nicht nur dabei helfen, die Ausgestaltung und Leistung einer einzelnen Anlage in einer Station zu verifizieren, sondern würde ihnen auch ermöglichen, das komplette Schutzsystem zu überprüfen ohne physisch in der Station sein zu müssen.


Smart Grids

Smart Grids

| VDE VERLAG

Smart Grids: Grundlagen und Technologien der elektrischen Netze der Zukunft

Die elektrischen Energieversorgungssysteme der Zukunft müssen höhere Anforderungen als bisher erfüllen. Smart Grids basieren auf intelligenten Konzepten für das Zusammenspiel von Erzeugung, Übertragung, Verteilung und Verbrauchern.

Mit umfangreichen Aktualisierungen und Ergänzungen gibt dieses Fachbuch einen aktuellen und fachkundigen Überblick zu den wesentlichen Aspekten moderner Technologien in Erzeugung, Übertragung und Verteilung der elektrischen Energieversorgungssysteme der Zukunft.

Zum VDE VERLAG

Zusammenarbeit mit anderen technischen Komitees

IEC SyC Smart Energy hat vor kurzem eine gemeinsame Arbeitsgruppe mit dem Subkomitee ISO/IEC SC 41 gebildet, das globale Normen für das Internet der Dinge (IoT) und Digitale Zwillinge erarbeitet. SC 41 ist Teil des gemeinsamen technischen Komitees JTC 1, das von der IEC und ISO gebildet wurde, um Normen im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) für Geschäfts- und Privatanwendungen zu entwickeln.

Eine ähnliche gemeinsame Arbeitsgruppe wurde von IEC TC 57 und SC 41 gebildet, um Synergien für IoT-Anwendungen im Verteilernetz zu identifizieren. François Coallier, Vorsitzender von SC 41, sagt: „Unsere Strategie ist, grundlegende und horizontale Normen zu erarbeiten, die das Vokabular, die Referenzarchitektur, Interoperabilität und Vertrauenswürdigkeit in Bezug auf das IoT und Digitale Zwillinge festlegen. Der zweite Teil der Strategie besteht darin, systematisch Anwendungsfälle über alle Anwendungsbereiche hinweg zu sammeln sowie Normungsbedarfe zu eruieren und dokumentieren. Eine weitere Aufgabe ist, die Rolle eines Starthelfers zu spielen, d. h. Normung in neuen Bereichen anzukurbeln.“

Bei den Anwendungsfällen gehören Smart Energy und Smart Grids zu den wichtigsten Anwendungen, deshalb die Entscheidung, sich zusammenzutun. „Der Energiesektor kann mit einem ziemlich großen Erfahrungs- und Wissensschatz aufwarten, insbesondere zum Thema der semantischen Interoperabilität Digitaler Zwillinge“, merkt Laurent Guise zustimmend an.

Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Digitale Zwillinge gehören zu den spannendsten Technologien des digitalen Zeitalters und die IEC verfügt über die nötigen Voraussetzungen, um dazu beizutragen, dass sie die Nutzeranforderungen erfüllen.


Interessiert an weiteren Inhalten zu Energy?

Fokusbild Energy

In der alltäglichen und gesellschaftlichen Diskussion ist sie ein ebenso großes Thema wie in der DKE – die Rede ist von der Energie. Unsere Normungsexperten bringen ihr Wissen aber nicht nur ein, um die Energieversorgung und -verteilung zukünftig „smart“ und dezentral zu machen, sondern leisten einen ebenso hohen Beitrag für den Betrieb elektrischer Anlagen und bei der flächendeckenden Verbreitung erneuerbarer Energien. Weitere Inhalte zu diesem Fachgebiet finden Sie im

DKE Arbeitsfeld Energy

Relevante News und Hinweise zu Normen