Nervenzellen
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08.06.2020 Fachinformation

Die Kraft des Gehirns

Die Gehirn-zu-Computer-Schnittstelle ist eines der großen Technologiethemen der Zukunft. Mit Hilfe von Gedankenübertragung können beispielsweise Gegenstände oder auch Exoskelette von Menschen mit Einschränkungen gesteuert werden. Die internationale Normung legt mit ihrer Arbeit den Grundstein für die weitere und sichere Entwicklung.

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Von Catherine Bischofberger

Unser Gehirn besteht aus über 100 Milliarden mikroskopischer Zellen, die Neuronen genannt werden. Zusammen können sie genügend Elektrizität erzeugen, um eine Glühbirne mit niedriger Wattleistung zum Leuchten zu bringen. Wissenschaftler, Forscher und zukunftsweisende Technologieunternehmen suchen nach Wegen, um diese Leistung für die Steuerung von drahtlosen Geräten zu nutzen.

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Vergessen Sie Sprach- und Gesichtserkennung: Der neueste Trend auf der diesjährigen CES war eine tragbare Gehirn-zu-Computer-Schnittstelle, mit der Menschen ihren Fernseher allein durch Gedankenkraft anschalten können. Das von einem französischen Start-Up hergestellte und von Neurowissenschaftlern mitbegründete Gerät liegt auf dem Kopf auf wie eine Stirnleuchte. Die eingesetzte Technologie basiert auf demselben Prinzip eines Elektroenzephalogramms. Das Gehirn sendet elektrische Signale aus, die gelesen und in digitale Befehle für kompatible Geräte umgewandelt werden können.

Allein durch ihre Gedankenkraft können Anwender so Befehle wie „abspielen“ oder „stoppen“ auslösen. Weitere Anwendungsbeispiele sind unter anderem Spiele mit oder ohne VR-Brille. Essentiell bei der Fernsteuerung von Spielen durch das Gehirn sind leistungsstarke Sensoren, die die elektrischen Signale besser erfassen können. Außerdem wird eine Technologie benötigt, mit der die vom Gehirn ausgesandten Daten in Echtzeit ausgewertet werden können. Algorithmen sind heutzutage ausgereift genug, um solche Aufgaben auszuführen.

Zur Regelung dieser aufkommenden Technologien sind Normen unerlässlich. Sie sparen Unternehmern, die diese neuen Produkte auf den Markt bringen wollen, Zeit und Geld. Das Technische Komitee (TC) 47 der IEC (Spiegelgremium: DKE K 631) veröffentlicht wichtige Normen für die Bauart, die Nutzung und die Wiederverwendung von Sensoren, wodurch Anwender beispielsweise ihre Leistung messen können. Das IEC TC 124 (Spiegelgremium: DKE K 802) entwickelt Normen für tragbare Geräte (sogenannte Wearables).

Das gemeinsame technische Komitee aus IEC und ISO für ICT, ISO/IEC JTC 1, hat das Unterkomitee (SC) 42 gegründet, das Normen im Bereich der Künstlichen Intelligenz erarbeitet.

  • SC 29 ist zuständig für die Codierung von Audio-, Bild-, Multimedia- und Hypermedia-Daten und veröffentlicht die ISO/IEC 23000-13, eine internationale Norm mit Fokus auf den verwendeten Datenformaten, um eine Augmented-Reality-Präsentation durch Verwendung von 2D-/3D-Multimedia-Inhalten zu bieten.
  • Normen für elektronische Anzeigen werden vom IEC TC 110 erarbeitet.
  • WG 12, eine der dem Unterkomitee zugehörigen Arbeitsgruppen, hat die erste Ausgabe der IEC 63145-20-20 erarbeitet, die die Messbedingungen zur Bestimmung der Bildqualität von Brillendisplays festlegt.

In China tragen Arbeitnehmer bereits seit längerer Zeit Helme, die mit Gehirnsensoren ausgestattet sind, um Daten über den Gemütszustand (zum Beispiel verärgert, depressiv oder angespannt) an den Arbeitgeber weiterzuleiten. Einem Bericht der South China Morning Post zufolge wird diese Technologie im Militär und in den Stromversorgungs- und Telekommunikationsbranchen eingesetzt, um die Produktivität der Mitarbeiter zu steigern. Jedoch gab es hierbei Bedenken über den Eingriff in die Privatsphäre der Mitarbeiter.

Aufstehen und laufen

Auch in der Medizin sind „gedankenlesende“ Technologien immer gefragter. Rückenmarksverletzungen im Bereich der Halswirbelsäule gelten als eine der schwersten Verletzungen ihrer Art. Rund 20 Prozent aller Patienten sind in allen vier Extremitäten gelähmt.

2019 steuerte ein unter Tetraplegie leidender junger Franzose ein Exoskelett allein durch seine Gedanken – und war damit in der Lage zu laufen. Zuvor trainierte er mit einem Computer-Avatar, bis er das Exoskelett bedienen konnte. Die Technologie, die sich zwei Jahre lang in der Testphase befand und von Wissenschaftlern des biomedizinischen Forschungszentrums Clinatec und der Universität Grenoble betreut wurde, zeichnet zunächst Gehirnsignale auf und entschlüsselt diese anschließend. Doch anders als bei dem tragbaren Kopfband des französischen Start-Ups funktioniert die Hirn-Computer-Schnittstelle in diesem Fall nicht ohne die chirurgisch unter dem Schädel des Anwenders eingesetzten Implantate.

IEC hat ein Systemkomitee zum Thema „Active Assisted Living“ (SyC AAL) ins Leben gerufen, das sich mit der Normung von AAL-Produkten, -Dienstleistungen und -Systemen befasst, um älteren oder behinderten Nutzern ein unabhängiges Leben zu ermöglichen. IEC TC 100 erarbeitet Normen für Audio-, Video- und Multimedia-Systeme und -Ausrüstungen. Des Weiteren hat es einen technischen Bereich (TA) zur Erarbeitung von Normen für tragbare Elektronikgeräte und Technologien aus dem Bereich AAL sowie für die Zugänglichkeit und Nutzerschnittstellen aufgebaut.


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Gehirnimplante versus Wearables

Ein Nachteil von gedankenlesenden Wearables ist die Tatsache, dass die vom Gehirn ausgesendeten Signale bzw. elektrischen Wellen durch die Schädeldecke und Haare abgeschwächt werden. Daher konzentrieren sich Wissenschaftler vermehrt auf die Nutzung von Implantaten zur Fernsteuerung von Gegenständen, obwohl diese Technologien invasiv sind, da für sie eine Operation erforderlich ist.

Das BrainGate-Programm ist eine Langzeit-Forschungsanstrengung mehrerer Institutionen in den Vereinigten Staaten. Ziel des Programms ist die Entwicklung neuer Neurotechnologien zur Wiederherstellung von Kommunikation, Mobilität und Unabhängigkeit für Menschen mit neurogenerativen Krankheiten, Verlust von Gliedmaßen oder Lähmungen. In einem Teil des Programms wurden sogenannte „Utah-Arrays“ in die Gehirne mehrerer Versuchspatienten eingepflanzt, wodurch sie in der Lage waren, online einzukaufen und Handy-Nachrichten an ihre Freunde zu senden. Auch andere US-amerikanische Unternehmen, wie zum Beispiel eines von Tesla-Gründer Elon Musk, investieren in diese Technologien. Hier liegt der Fokus auf der Entwicklung einer minimal invasiven Implantatart, die keinen oder nur einen sehr kleinen Eingriff erfordert.

Vergangenes Jahr wurde in China ein gedankenlesender Gehirn-Computerchip mit dem Namen Brain Talker von Forschern der Universität von Tianjin vorgestellt. Es wird erwartet, dass der Chip als Wearable bereitgestellt wird, da er viele Störungsgeräusche aufhebt, die die Signalübertragung zu ähnlichen Wearables behindert. „Die vom Gehirn ausgesendeten und verarbeiteten Signale werden von Hintergrundgeräuschen überschattet. Dieser BC3-Chip kann geringste elektrische Signale unterscheiden und deren Informationen effizient auslesen. Das sorgt für eine höhere Geschwindigkeit und Genauigkeit bei Hirn-Computer-Schnittstellen“, so Dong Ming, Dekan der Tianjin University Academy of Medical Engineering and Translational Medicine.

Trotz der anhaltenden Investitionen und Forschung wird es noch viele Jahre dauern, bis diese Technologien auf den Verbrauchermarkt kommen. Wir stehen noch ganz am Anfang. Noch können wir unsere unmittelbare Umgebung nicht durch unsere Gehirnströme steuern – von Gedankenlesen mal ganz abgesehen. Jedoch beweisen diese Technologien, wie viel Potenzial in unseren elektrisch arbeitenden Gehirnen steckt und dass wir gerade erst beginnen, deren Nutzung zu verstehen.


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